- Stendhal, Balzac, Flaubert: Der Roman als Spiegel der Gesellschaft
- Stendhal, Balzac, Flaubert: Der Roman als Spiegel der GesellschaftDer Aufstieg des Romans setzte sich im 19. Jahrhundert stetig fort: Nach der Französischen Revolution, die auch im literarischen Leben zu großen Umwälzungen führte, emanzipierte sich der im klassischen Kanon als minderwertig abqualifizierte Roman zusehends zur charakteristischen Gattung des bürgerlichen Zeitalters. Während in der Frühromantik der persönliche und in der Romantik der historische Roman dominierte, entstanden seit den 1830er-Jahren vorwiegend Werke, die der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Dabei stand das Bürgertum mit seinem Aufstiegswillen und Glücksstreben, seinen Hoffnungen und Widersprüchen, seiner Leistungsorientierung und Geldfixiertheit im Mittelpunkt des Interesses. Die herausragenden Vertreter dieser neuen Literatur, die man - bei aller Problematik des Begriffs - als Realismus bezeichnet, sind Stendhal, Balzac und Flaubert.Henri Beyle, der sein Pseudonym Stendhal nach dem Geburtsort des von ihm bewunderten deutschen Kunsthistorikers Winckelmann wählte, sprach sich schon bei seinem Eintreten für die romantische Ästhetik (»Racine und Shakespeare«) für eine aktualitätsbezogene Modernität aus. Sein Roman »Rot und Schwarz« (1830) wurde angeregt durch einen Kriminalfall. Er schildert den zunächst glücklichen Aufstieg eines begabten Provinzlers, der durch Verstellungskunst und Ehrgeiz im Paris der Restauration zu Rang und Namen kommt, dann jedoch von seiner Vergangenheit eingeholt und nach einem Mordanschlag hingerichtet wird. Die Darstellung des Einzelnen, der als Ausnahmemensch gegen die Gesellschaft ankämpft und schließlich besiegt wird, worin Stendhal durchaus eigene Charakterzüge wiedergibt, erweitert sich durch die kritische Porträtierung der gesellschaftlichen Schichten auch zu einer »Chronik des 19. Jahrhundert«, wie es der Untertitel verspricht. Die exakte psychologische Schilderung erfolgt in einem nüchternen, präzisen Stil; der Erzähler ist im Roman als kommentierende Instanz ständig präsent - was sich bei Flaubert ändern wird. Stendhal, der lange in Italien lebte, und dort sein Ideal des energischen, willensstarken Renaissancemenschen verwirklicht fand, steht mit seinem nostalgischen selbstbezogenen Heroismus in romantischer Tradition, während ihn die schonungslose Analyse der gesellschaftlichen Zustände und sein einfacher unpathetischer Stil als Realisten ausweisen.Honoré de Balzac unternahm in seinem umfangreichen Romanwerk den Versuch, die zeitgenössische gesellschaftliche Wirklichkeit getreu und methodisch wiederzugeben. Er war ein Vielschreiber, der zunächst Trivialliteratur verfasste, und unter dem doppelten Druck seiner Schuldenlast aus fehlgeschlagenen Geschäften und der Abgabetermine für die teilweise in Zeitungen veröffentlichten Werke unermüdlich arbeitete. Unter dem auf Dantes »Göttliche Komödie« verweisenden Gesamttitel »Die menschliche Komödie« plante Balzac, insgesamt 137 Romane zu schreiben, wie er 1845 in seinem Werkkatalog ausführte. Tatsächlich entstanden von 1829 bis zu seinem Tod 91 Romane und Erzählungen, die nach und nach in die drei großen Abteilungen »Sittenstudien«, »philosophische Studien« und »analytische Studien« integriert wurden. Die (vom Umfang her größte) erste Gruppe ist ihrerseits in sechs Bereiche, »Szenen des privaten, des Provinz-, des Pariser, des politischen, des militärischen und des Landlebens«, unterteilt. Die ungefähr 3000 Personen, die den Romanzyklus bevölkern, entstammen überwiegend den mittleren und höheren Schichten der Gesellschaft - das Stadtproletariat beispielsweise, für das sich die Brüder Goncourt und Zola später begeisterten, fehlt.Die einzelnen Romanfiguren, von denen manche in mehreren Werken auftauchen, bilden mit ihrer individuellen Entwicklung, ihren historischen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Verflechtungen eine eigene Welt, sind zu Typen konzentriert, sollen jedoch gleichzeitig die soziale Wirklichkeit abbilden. Dabei kommt dem Milieu, aus dem das Individuum hervorgeht, eine wichtige Rolle zu. Charakteristisch sind auch die ausführlichen Beschreibungen und das kommentierende Eingreifen des moralisierenden Erzählers. Angeregt wurde Balzac bei diesem Versuch, die menschliche Gesellschaft zu klassifizieren und damit in ihrer Dynamik zu erklären, durch die naturwissenschaftliche Forschung der Zoologie und deren Systematisierungen. Sein Ziel war, eine kritische Sittengeschichte Frankreichs vom Empire bis zur Julimonarchie zu schreiben. Balzac erkannte dem Geld, der Kapitalisierung des Lebens, die auch vor der Kunst nicht haltmacht, die entscheidende Rolle zu - was ihm das Lob Friedrich Engels eintrug, von Balzac mehr über die damalige Volkswirtschaft gelernt zu haben als aus wissenschaftlichen Texten.Gustave Flaubert begründete eine zweite Phase des literarischen Realismus. Einer späteren Generation zugehörig, konnte er auf die Erfahrungen Balzacs zurückgreifen; er stand jedoch in seinem Frühwerk auch unter dem Einfluss der Romantik. Sein literarischer Durchbruch gelang ihm mit »Madame Bovary« (1857). Die neuartige und schockierende Schilderung des im Selbstmord endenden Lebens der jungen Emma Bovary, die an den eigenen Illusionen und der mittelmäßigen und opportunistischen Umwelt zerbricht, trug dem Autor einen Prozess wegen Verstoßes gegen die guten Sitten ein, in dem er jedoch freigesprochen wurde - im Unterschied zu Charles Baudelaire, der wegen der »Blumen des Bösen« im gleichen Jahr verurteilt wurde. Als skandalös an »Madame Bovary« war weniger der Ehebruch der Hauptfigur angesehen worden, als vielmehr die fehlende moralisierende Stellungnahme des Erzählers zu den geschilderten Ereignissen. Flauberts unpersönlicher, unparteiischer, kühler Stil, der die triviale Wirklichkeit objektiv und distanziert wiedergibt und es dem Leser überlässt, sein Urteil zu bilden, wurde teilweise erst von späteren Generationen gewürdigt. Flaubert verwandte größte Sorgfalt auf die sprachliche Form, auf das rechte Wort; seine Werke entstanden nach umfangreichen Vorarbeiten, dem Studium wissenschaftlicher Literatur der unterschiedlichsten Fachgebiete und in langen Zeiträumen. Immer wieder änderte und korrigierte er seine Manuskripte und las sich die Texte laut vor, um auch den Klang der Sprache beurteilen und verbessern zu können. Für seinen historischen Roman »Salammbô« reiste Flaubert eigens nach Nordafrika, um die Reste des antiken Karthago in Augenschein zu nehmen. Die »Versuchung des heiligen Antonius« zeugt von ausgedehnten religionsgeschichtlichen Studien. In seinem Roman »Lehrjahre des Gefühls« gelang es Flaubert, die Desillusionierung einer ganzen Generation nach dem Scheitern der Revolution von 1848 im Schicksal der Hauptfigur, Frédéric Moreau, darzustellen.Die Anregungen für seine Werke erhielt Flaubert häufig von außen, durch eine Zeitungsnotiz etwa bei »Madame Bovary«. Der aufwendige künstlerische Entstehungsprozess, den Flaubert als ein Handwerk auffasste, ließ aus den Klischees der banalen Realität, der Dummheit der Gesellschaft, die Flaubert aufs äußerste verabscheute, ausgefeilte Kunstwerke entstehen. »Ein Buch über nichts wolle er schreiben« formulierte Flaubert einmal und verdeutlichte damit seinen hohen Anspruch an den Schriftsteller, der durch seine Arbeit auch Unbedeutendes zu Kunstwerken zu formen imstande sei. Sein letztes Werk »Bouvard und Pécuchet«, das diese Entwicklung auf den Höhepunkt trieb und in seinem Umgang mit Zitaten gar auf neueste Ansätze in Literatur und Philosophie verweist, blieb unvollendet.Ludger SchererDethloff, Uwe: Französischer Realismus. Stuttgart u. a. 1997.Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.Köhler, Erich: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur, herausgegeben von Henning Krauss. Band 6: Das 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984—87.
Universal-Lexikon. 2012.